Gesundheit

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein junger Mensch mit einem dringenden gesundheitlichen Anliegen. Nach langem Hin und Her entscheiden Sie sich dafür, ärztlichen Rat einzuholen. Ihre Betreuerin empfiehlt, der Einfachheit halber die nächst gelegene Praxis zu besuchen – so weit, so gut. Als Sie dem Arzt gegenüber sitzen, nehmen Sie allen Mut zusammen und erzählen von Ihrer Situation. Der Arzt aber schickt Sie unverrichteter Dinge wieder weg, da er mit “so was” nichts anfangen kann, oder stellt Ihnen als erstes eine Frage nach Ihrem Sexualleben. Vielleicht verweigert er Ihnen auch die Maßnahme, die Sie bräuchten, damit es Ihnen körperlich besser geht oder drängt Sie zu einer Behandlung, an der Sie Zweifel haben. Nachmittags fragt Ihre Betreuerin: “Und, wie war’s?” Sie schweigen und verweigern die weiteren Vorschläge, zu Ärzt*innen zu gehen. Mit Ihrem Anliegen bleiben Sie allein.   

Als Folge von Diskriminierungserfahrungen meiden viele queere Menschen das Gesundheitssystem, was sich wiederum negativ auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirkt. Gleichzeitig ist der Bedarf an medizinischer Versorgung für LSBT*IQ Menschen höher, da sie aufgrund von queerfeindlichen Abwertungen und Ausschlüssen tendenziell häufiger unter psychischen und körperlichen Belastungen leiden.

Vor allem Kinder und Jugendliche, die vom guten Willen ihres Umfeldes abhängig sind, müssen Zugang zu einer sie unterstützenden medizinischen Versorgung bekommen – egal, ob es dabei um die Zähne, Rückenprobleme oder queer-spezifische Versorgung wie Hormontherapie geht. 

Da wir in diesem Rahmen keine Einzelpersonen oder Praxen empfehlen können, möchten wir die folgenden Hinweise zum Finden kompetenter und respektvoller medizinischer Versorgung machen: 
  • Erfragen Sie gemeinsam mit den Kindernund Jugendlichen Praxen bei Beratungsstellen wie TrIQ e.V., Queer Leben oderdem Sonntags-Club e.V. Diese sammeln Erfahrungen und Empfehlungen aus derLSBT*IQ Community und können diese weitergeben. 
  • Informieren Sie sich auf selbstorganisierten Plattformen wie https://queermed-deutschland.de/, https://www.gynformation.de/, oder beim intersektionalen Gesundheitszentrum Casa Kuà https://casa-kua.com/de/  Auch an Orten wie queerfreundlichen Cafés oder Jugendzentren finden sich oft Flyer und Broschüren zu LSBT*IQ-spezifischen medizinischen Angeboten. 
  • Vermehrt gibt es an größeren medizinischen Versorgungszentren und Kliniken eigene Sprechstunden für LSBT*Q Kinder und Jugendliche. Recherchieren Sie, was es in Ihrer Umgebung gibt. Auch wenn es teilweise lange Wartelisten gibt, lohnt es sich, solche Angebote frühzeitig in Anspruch zu nehmen. 
  • Bieten Sie als Fachkraft Unterstützung nicht nur bei der Suche, sondern auch im Verlauf der Ärzt*innenbesuche an. Vor allem für inter- und transgeschlechtliche Kinder und Jugendliche kann ein Ärzt*innenbesuch mit viel Stress und Unsicherheit verbunden sein. Werde ich mit dem gewünschten Namen aufgerufen? Wird das Gespräch einfühlsam ablaufen? Bekomme ich die Hilfe, die ich benötige? Werden meine Grenzen gewahrt? Und was kann ich tun, wenn das nicht der Fall ist? Einen guten Überblick und mögliche Umgangsweisen mit Diskriminierung bietet die Broschüre “Rezepte gegen Diskriminierung im Gesundheitssystem” (Schwulenberatung Berlin, 2020, abrufbar unter: https://schwulenberatungberlin.de/wp-content/uploads/2021/05/60191a10b55b7c85d26db5ec_Final_Rezepte_gegen_Diskriminierung_StandUp20_Online.pdf
  • Zögern Sie nicht, bei unangenehmen Erfahrungen weiter zu suchen. Erfragen Sie, ob eine Beschwerde oder / und eine professionelle Beratung zu Diskriminierung gewünscht ist. Auch Austausch mit anderen LSBT*IQ Menschen kann bestärkend wirken, wenn eine unangenehme Erfahrung gemacht wurde. 
  • Bei bereits vorhandenen Kontakten zu Ärzt*innen oder Versorgungszentren können Sie aktiv ins Gespräch gehen: welche queer-spezifischen Kompetenzen gibt es? Wie wird mit Anrede und Namen umgegangen? Solche Fragen, vorab telefonisch oder per e-mail gestellt, können einen Eindruck vermitteln, ob die Praxis die erforderliche Sensibilität mitbringt. 
  • Bestärken Sie die queeren Kinder und Jugendlichen darin, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern und trotz Hürden die Dienste des Gesundheitssystems so gut wie möglich in Anspruch zu nehmen. Ermutigen Sie sie, auf die Signale von Körper und Psyche zu hören und ein gutes Gespür für die eigenen gesundheitlichen Bedürfnisse zu entwickeln.

Auch in Bezug auf das Thema Gesundheit sind Sie als Fachkraft gut beraten, ein wenig Hintergrundwissen zur Situation queerer Menschen zu haben. 

Belastende Erlebnisse sind für LSBT*IQ Menschen im Gesundheitssystem leider keine Seltenheit. In der 2020 durchgeführten EU-weiten Umfrage zur Situation von queeren Menschen im deutschen Gesundheitswesen geben zwischen 15-25% der 16 000 Befragten an, im Gesundheitssystem Diskriminierung zu erleben: von Zugangshürden über Vorurteile des medizinischen Personals bis dahin, unter Druck gesetzt zu werden, sich einer bestimmten Behandlung zu unterziehen (Quelle: European Union Agency for Fundamental Rights: EU-LGBTI II – A long way to go fot LGBTI equality, 2020. Deutschsprachige Zusammenfassung der Studie abrufbar unter: https://www.lsvd.de/de/ct/2615-Schlechtere-Gesundheit-von-Lesben-Schwulen-bisexuellen-trans-und-inter-Menschen

Homosexuelle, bisexuelle und asexuelle Lebensweisen und Körper, die “nicht eindeutig” in das medizinische Schema von Männlichkeit und Weiblichkeit passen, sowie transgeschlechtliche Identitäten galten für Medizin und Psychologie lange Zeit als Krankheiten oder psychische Störungen, die behandelt werden müssen. Vor allem intergeschlechtliche Menschen müssen die Erfahrung machen, dass ihre – völlig gesunden- Körper als missgebildet und krankhaft angesehen werden. Operative und medikamentöse Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern sind in Deutschland immer noch die Regel und werden damit gerechtfertigt, die Kinder vor Diskriminierung schützen zu wollen – obwohl Betroffenenverbände seit den 1990ern ein umfassendes Verbot von kosmetischen Genitaloperationen und hormoneller Behandlung fordern und die verheerenden körperlichen und psychischen Folgen solcher Eingriffe aufzeigen (siehe dazu etwa die Seite von Intergeschlechtliche Menschen e.V. https://im-ev.de/